Eine Reiterin ist auf ihrem Pferd unterwegs und hat einen extrem unruhigen Oberkörper. Die Ausbilderin bemerkt dies und erteilt die Anweisung „Halte Deinen Oberkörper ruhiger.“ Für die Reiterin ist dies eine nicht lösbare Aufgabe, da die zugerufene Sitzkorrektur nicht den Kern ihres Sitzproblems erfasst hat. Der Oberkörper der Reiterin war deshalb so extrem unruhig, da ihre Mittelpositur sehr fest war. Das Becken war falsch gekippt, der Bauch eingezogen und die Gesäßmuskeln angespannt. Dadurch konnte sie als Reiterin nicht mit dem Gesäß ruhig im Sattel Platz nehmen und saß nicht im Gleichgewicht. Der angespannte Gesäßmuskel verursachte, dass sie sich regelrecht über das Pferd hob und nicht satt im Sattel ruhen konnte. Ist unsere Mittelpositur nicht perfekt balanciert, setzt sich eine wahre Kettenreaktion in Gang. Der Oberkörper muss unruhig werden und mit ihm die Hände. Auch die Schenkel können sich bei diesem gravierenden Sitzfehler nicht ruhig an das Pferd schmiegen und sind dann meistens auch unruhig oder hochgezogen. Die primären Sitzkorrekturen setzen immer an der Mittelpositur an. Ist dieses Thema gelöst, verschwinden viele Sitzprobleme zum Teil von ganz allein.

Sie kennen sicherlich aus der Reitlehre die idealtypischen Linien „Schulter-Hüfte-Absatz“  und „Pferdemaul-Handgelenk-Ellenbogen“. Diese Linien zu erreichen ist schon ein Weg von vielen Jahren. Es ist allerdings wichtig zu wissen, dass nicht jeder Reiter diese idealtypischen Linien exakt erreichen kann. Als Ausbilder macht es keinen Sinn den Absatz des Reiters exakt auf die Hüftlinie zu korrigieren, wenn er biomechanisch aufgrund der Form oder Länge seiner Beine gar nicht dazu in der Lage ist. Korrigiert der Ausbilder den Fuß des Reiters eventuell einen Tick zu weit nach hinten, kann es sein, dass der Reiter in seinem Becken blockiert. Der Reitlehrer muss auch immer im Fokus haben, dass sein Schüler frei in seinen Gelenken bleibt. Ein vermeintlich idealtypischer Sitz bringt rein gar nichts, wenn der Reiter in allen seinen Gelenken festgestellt ist. Damit kann er nicht korrekt auf die Bewegungen seines Pferdes eingehen und blockiert das Pferd auf diese Weise.

Ein weiteres Beispiel ist ein Reiter der vermeintlich idealtypisch sitzt. Die oben beschriebenen Linien sind perfekt erfüllt. Dieser Reiter ist allerdings so fest in Lende und Schultergürtel, dass er aufgrund der fehlenden Lockerheit seiner Muskulatur nicht korrekt sitzen kann. Sind wir zu fest in unseren Muskeln, überträgt sich auch dies auf die Muskulatur unseres Pferdes. Diese Reiter-Pferd-Paare bewegen sich in der Regel nicht fließend, tänzerisch und harmonisch, sondern stakkatoartig und roboterartig. Der Laie sieht nur ein nicht so harmonisches Bild, welches seine Ursache aber auch wieder in unserem Reitersitz hat.

Warum nenne ich diese Beispiele? Ich finde es immer wieder bedenklich, dass in so vielen Reitstunden wenig bis gar keine Sitzkorrekturen erfolgen. Eine immerwährende Korrektur des Reitersitzes, egal auf welchem Niveau der Reiter reitet, gehört zu gutem Unterricht dazu. Da werden komplizierte Lektionen geübt und der Reiter sitzt gravierend falsch. Das Pferd kann biomechanisch seine Aufgabe einfach nicht richtig erfüllen, wenn wir als Reiter nicht korrekt auf ihm Platz nehmen. Unsere Pferde sind ja so brave Wesen, dass sie selbst mit einem komplett schief oder verspannt sitzenden Reiter noch versuchen, ihre Aufgabe irgendwie zu erfüllen. Dies ist leider ein Ding der Unmöglichkeit.

Unser Sitz ist der Schlüssel zur Harmonie mit dem Pferd. Es ist ein lebenslanger und oft sehr, sehr mühsamer Weg, die eigenen Schwachstellen im Sitz zu bearbeiten. Dazu brauchen wir einen Ausbilder, der in jeder Minute unserer Unterichtsstunde unseren Sitz im Auge hat. Guter Unterricht ist in erster Linie eine Arbeit am Reiter. Sitzt der Reiter korrekt ergibt sich die Harmonie und die Perfektion von ganz alleine. Irgendwann sind es dann nur noch winzige Korrekturen, die einen so großen Effekt auf unserer Pferd haben. Die Arbeit am Sitz hört nie auf aber ist so lohnenswert, denn es ist ein Genuss eins mit dem Pferd zu werden.

Andrea Lipp, Januar 2018