top of page
Suche
AutorenbildAndrea Lipp

Krankes Pferd durch falsches Reiten?

Ich wurde einmal gefragt, ob ich auch mit richtig schlimm verrittenen Pferden zu tun habe. Die Antwort war ja. Ganz oft wenden die Kunden sich einer „anderen“ Reitweise zu, weil der bisherige Weg nicht funktionierte.


Vor einigen Wochen hatte ich eine neue Kundin im Unterricht. Sie brachte eine 6-jährige Warmblutstute mit, die seit einem Jahr ihr gehörte. Das Pferd wurde von einem sehr hart reitenden Bereiter angeritten und die folgenden Jahre weiter „ausgebildet“. Die Kundin war sehr bedrückt, weil ihr junges Pferd so stark mit dem Kopf schlug. Aus Verzweiflung hatte sie sogar zu einem Martingal gegriffen. Die Zähne waren kontrolliert und auch der Physiotherapeut war bereits zu Rate gezogen worden.


In der Reitbahn zeigte sich dann folgendes Bild. Ein wunderschönes und gangstarkes junges Pferd, welches komplett aus der Balance geritten worden war. Mir ging der Anblick dieses jungen Tieres mit seiner unglücklichen Reiterin wirklich nahe. Die Stute hatte keinen vertrauensvollen Blick mehr, sondern sah ängstlich und in sich gekehrt aus. Sie lief von der Seite betrachtet regelrecht bergab, so stark war sie durch die falsche Reiterei auf die Vorhand geritten worden. Das ganze Pferd war von den Ohren bis zum Schweif verspannt. Der Schritt war zackelig und verklemmt, von einem Schreiten war nichts zu sehen. Trab und Galopp kann man nur unter der Überschrift „auf der Flucht“ und „Rennen aus Angst vor dem Umfallen“ bezeichnen. Natürlich ist ein junges Pferd noch unbalanciert, aber dieses arme Ding war regelrecht aus dem Gleichgewicht gescheucht worden. Es wurde berichtet, dass der alte Besitzer die Stute richtig „angepackt“ hatte. Dies war neben dem muskulären Zustand natürlich auch an der Anlehnung zu sehen. Die war nämlich überhaupt nicht vorhanden. Die Stute war entweder über dem Zügel oder hat versucht, nach vorne unten abzutauchen.


Nun saß mit der neuen Besitzerin zum Glück eine junge Frau auf dem Pferd, die einen sehr schönen und geschmeidigen Sitz, eine sehr feine und fühlende Hand und vor allem keine Angst vor diesem hektischen, ängstlichen Tier hatte. Unter dem alten Besitzer ist das Tier wohl auch regelmäßig gestiegen und hat gebockt. Das ist nicht wirklich verwunderlich bei der offensichtlich praktizierten Rückwärtsreiterei.


Wie begannen wir nun mit diesem Pferd im Unterricht? Dies ist ein Fall von „zurück auf Anfang“. Wenn man es richtig betrachtet, fängt man mit so einem Pferd nicht bei Null an, wie bei einem unbelastetem jungen Pferd, sondern bei „minus 50“, denn hier gilt es ja noch den für das Pferd als traumatisch empfundenen Kontakt zum Reiter der letzten drei Jahre so weit es geht vergessen zu machen. Vergessen wird so ein Pferd natürlich nie aber man kann mit neuen, positiven Erlebnissen dem Tier wieder zeigen, dass es dem Reiter vertrauen kann.


Das Martingal habe ich in der ersten Reitstunde nicht gleich entfernen lassen. Ich wollte mir zuerst die Gesamtsituation ansehen. Die Reiterin berichtete mir, dass die Stute zum Teil so stark mit dem Kopf schlug, dass sie in Gefahr war eine Kopfnuss zu bekommen. Bei solchen Fällen ist es häufig besser nicht gleich alles an unerwünschter Ausrüstung abzubauen, da dies schnell zu Überforderung führt. Was wir allerdings gleich zu Beginn machten, ist das viel zu eng verschnallte schwedische Reithalfter zu lockern. Diese gruseligen Reithalfter sind ja so konzipiert, dass man mit Hilfe ihrer Flaschenzugwirkung das Maul besonders fest zuschnüren kann. Aus diesem Grund sind sie auch so „schön“ abgepolstert damit der entstehende Druck auf den empfindilchen Pferdekopf breiter verteilt wird. Das Sperrhalfter haben wir so locker verschnallt, dass das Pferd eine dicke Möhre abbeißen könnte, wenn wir sie ihm anbieten. Zu eng verschnallte Reithalfter haben einen verheerenden Effekt auf die gesamte Wirbelsäule des Pferdes. Stellen Sie sich vor, Sie müssten joggen gehen und Ihr Unterkiefer wäre fest an Ihren Oberkiefer geschnallt. Könnten Sie da entspannt laufen? Nein, oder? Allein die Vorstellung, dass ein Körperteil so fixiert ist, dass er nicht mehr bewegt werden kann, ist schon eine beklemmendes Bild. Den Pferden geht es nicht anders. Dazu kommt dann noch, dass durch den fixierten Unterkiefer die gesamte Wirbelsäule verspannt. Wenn Sie Ihren Unterkiefer nicht locker lassen dürften, würde das ebenfalls zu Verspannungen in Ihrer Halswirbelsäule führen, die sich dann weiter auf Ihren gesamten Rücken ausbreiten.


Wir fingen in dieser Reitstunde also an im Schritt. Die Stute war zackelig und aufgeregt und sehr unruhig im Kopf-Hals-Bereich. Der Reiterin erklärte ich, dass sie ganz feinen Kontakt halten soll und den unruhigen Kopf-Hals-Bereich schlichtweg ignorieren muss. Eine unruhige Kopf-Hals-Haltung kommt immer aus einem nicht losgelassenen Rücken und einem nicht ausreichend nach vorne gearbeiteten Pferd. Unser Fokus für dieses junge Pferd war es nun, wieder in allen Gangarten einen gleichmäßigen Takt zu erzeugen. Die Reiterin musste einige Runden Schritt reiten und immer einen gleichmäßigen Viertakt nach vorne als inneres Bild verfolgen. Das hieß bei diesem jungen Pferd, wenn es wieder stockte im Bewegungsablauf, was alle paar Meter der Fall war, haben wir impulsartig mit der inneren Wade nachgetrieben, wenn keine Reaktion erfolgte, hat die Reiterin kurz mit der Gerte touchiert. Die Stute reagierte immer sein fein auf den Impuls nach vorne und für jede richtige Reaktion wurde sie überschwänglich gelobt. Bei solchen rückwärts gerittenen Pferden wurde in der Regel auch mit brachialem Schenkeldruck und Kraftaufwand gearbeitet. Unser Ziel ist es bei solchen Pferden wieder eine impulsartige Reaktion zu etablieren. Das Pferd muss lernen, dass es alleine das gewünschte Tempo halten soll und wir nur treiben, wenn es etwas zu treiben gibt. Arbeitet das Pferd korrekt, sitzt der Reiter passiv und lässt das Pferd in Ruhe. In der Regel sind diese Pferde ja förmlich dauerhaft „bearbeitet“ worden. Es ist für sie dann ein völlig neues Erlebnis, dass der Reiter sie zwischendurch in Ruhe lässt. Diese Form der Hilfengebung ist für das Pferd extrem logisch und hoch motivierend. Der Lerneffekt ist hier beim jungen Pferd oder Korrekturpferd: „Aha, wenn ich fleißig bleibe macht mein Reiter nichts und er wird nur aktiv, wenn ich wieder klemme!“ Die Pferde werden regelrecht zum Mitdenken angeregt. Dies ist für die Tiere eine hoch motivierende Art der Zusammarbeit. Werden sie doch partnerschaftlich behandelt und nicht in Form eines Fitness-Studio-Sportgerätes mechanisch dominiert.


Bei dieser Stute war es so, dass sie auf die kleinste Berührung der Gerte regelrecht schreckhaft reagierte, aber sehr gute Reaktionen auf einen vibrierenden Schenkel zeigte. Variieren Sie bei solchen Pferden mal die Art der Einwirkung. Wenn ein sanfter kurzer Impuls nicht funktioniert, streichen Sie einmal von hinten nach vorne gegen das Fell oder vibrieren/klopfen Sie mit dem Bein. Wichtig ist, dass das Pferd prompt reagiert und nicht erst zäh nach einigen Sekunden. Funktioniert der Schenkel nicht, müssen Sie sofort die Gerte kurz einsetzen. Der Schenkel muss dabei passiv sein, sonst wäre die Hilfe widersprüchlich. Reagiert das Pferd loben Sie bitte überschwänglich. Diesem Pferd mussten wir natürlich auch vermitteln, dass es keine Angst haben muss vor der Touchierhilfe. Setzen Sie die Gerte also auch bei solchen verängstigten Pferden ein. Nur über den korrekten, sanften Touchiereinsatz lernen diese traumatisierten Pferde, dass sie nicht geschlagen, sondern berührt werden. Sie können das alte Erlebte nur löschen, wenn Sie diesen Ausrüstungsgegenstand neu und positiv vernetzen. Es bringt absolut nichts ihn wegzulassen. Genauso ist es mit der Angst vor dem Zügel. Es ist vollkommen sinnlos den Zügel bei diesen Pferden wegzuschmeißen. Vertrauen zur Hand lernen diese Pferde nur, wenn sie Situationen erleben, wo ein Reiter feinen Kontakt hält und ihnen nichts tut. Den Zügel wegzulassen wäre vergeudete Zeit. Ihr Pferd muss ja lernen, dass der Zügel nichts Schlimmes ist.


Nach einigen Runden Schritt haben wir dann den Trab hinzugenommen. Das Bild war dasselbe. Kein Takt und fehlende Losgelassenheit. Die Stute wechselte zwischen sich verkriechen und zog gar nicht mehr nach vorne und nach vorne rennen. Sie war vollkommen aus der Balance. Die Reiterin musste nun lernen, sich auf das zu fokussieren, was hinter ihrem Sattel passierte. Die Hilfengebung war exakt genauso wie im Schritt. Wurde die Stute zu kurz wurde getrieben und überschwenglich gelobt. Das wilde Geschlage mit dem Kopf haben wir ignoriert und sind kontinuierlich ruhig weiter nach vorne geritten. Zuerst nur ganze Bahn und später kam dann auch der Zirkel. Die Stute hatte bisher in keinster Weise verstanden was Schenkelreakion bedeutet. Wir wollen beim Treiben kein nach vorne Preschen als Reaktion, sondern einen ruhigen, größeren Schritt, Tritt oder Sprung auslösen. Dieses innere Bild müssen Sie als Reiter klar verfolgen. Die große Kunst ist es, sich auf solchen wuseligen Pferden nicht anstecken zu lassen. Die Reiterin lernte innerlich einen klaren Zweitakt zu zählen. Wenn die Stute „langsamer zählte“ als ihre Reiterin wurde getrieben, wenn sie davon schoss wurde sie über unseren korrekten Sitz im Leichtraben abgefangen. Sie müssen gut und korrekt Leichttraben lernen damit, Sie das Pferd über einen weichen und korrekten Sitz abfangen können, wenn es davonrennen will. Auf keinen Fall dürfen Sie bei den Tieren am Zügel ziehen. Die Hand muss immer weich in Kontakt und vor dem Sattel bleiben. Für die Reiterin bedeutete diese Vorgehensweise eine enorme mentale Herausfoderung. Müssen wir uns doch auf so einem hektischen Tier gut auf unser inneres Bild fokussieren. Die Stute wurde von Runde zu Runde ruhiger. Sie merkte, dass wir gar nichts Schlimmes von ihr wollten und sie nur ruhig nach vorne laufen durfte.


Dieses Pferd war auch offensichtlich in einer so falsch verstandenen Dehnungshaltung geritten worden, dass sie immer viel zu tief wollte. Dehnungshaltung steht für diese Stute die nächsten Wochen erstmal mal gar nicht auf dem Programm und wäre hier sogar schädlich, da sie bereits viel zu sehr auf die Vorhand gepuscht wurde. Wir haben in der Einheit immer das Genick in eine gesunde Arbeitshaltung für ein junges Pferd gebracht. Das heißt das Genick ist der höchste Punkt und das Pferd darf sich nicht einrollen. Wir wollen in dieser Haltung die Oberlinie lang und den Rücken zum Entspannen bringen. Im falsch gerittenen Vorwärts-Abwärts, was hier offensichtlich passiert war, machen Sie den Rücken nicht locker sondern noch fester. Die Hinterhand läuft bei diesen Pferden regelrecht abgekoppelt hinterher.


Auffällig war außerdem und dies fand ich so furchtbar traurig, dass die junge Stute große Angst vor mir in der Mitte hatte. Ich hatte meine lange Touchierpeitsche bei mir und dies verursachte regelrechte Panik. Sie ist offensichtlich vom Vorbesitzer mehrmals von unten verprügelt worden. Natürlich muss sie auch lernen, dass ein Mensch von unten eine Touchierpeitsche haben darf, aber meine Touchierpeitsche legten wir für diese Unterrichtseinheit auf die Bande. Es ging uns an diesem Tag nur darum, diesem jungen Pferd eine schöne Lernatmosphäre zu schaffen. Das Kapitel „Bodenpersonal darf Peitsche mit sich rumschleppen“ kommt dann zu einem späteren Zeitpunkt.


Galoppiert sind wir in dieser ersten Stunde gar nicht. Der Galopp wird erst dazugenommen, wenn wir den Trab ruhig und schwingend haben. Bei einem nicht balancierten Pferd ist Galopp als Gangart wesentlich verschleißender als der Trab. Dies hat seinen Grund in der Fuß- und Phasenfolge. Im Trab werden alle vier Beine gleichmäßiger belastet, da immer das diagonale Beinpaar am Boden ist. Im Galopp landet das Pferd vor der Sprungphase immer auf dem inneren Vorderbein. Sie können sich vorstellen, dass dies bei so einem unbalancierten Pferd regelrecht ungesund ist.


Unsere Stunde endete mit einem Pferd, was einen deutlich geregelteren Takt hatte und erste Anzeichen von Losgelassenheit zeigte. Sie schnaubte einmal ab und zum Ende pupste sie auch, was auch ein Zeichen von Entspannung ist. Der Hals war auch länger, die ganze Kopfhalshaltung war ruhiger geworden und wir hatten ganz kurze Momente von Kontakt zur Hand. Dieses Pferd muss regelrecht Vertrauen zum Menschen lernen. Sie wartete die ganze Zeit darauf, dass sie in eine starre Form gepresst und vom Reiter komprimiert wird. Diese Angst müssen wir ihr nehmen durch eine logische Hilfengebung und eine weich anstehende Zügelhand. Das Martingal wird logischweise auch ab sofort weggelassen.


Muskulär betrachtet hat die Stute bereits erste Zeichen einer Trageerschöpfung. Der Widerrist ist regelrecht nach unten weggesackt und neben dem Schweif sind die beiden Muskelstränge zu erkennen. Dies passiert, wenn das Pferd zu viel vorwärts und über Tempo vorwärts geritten wurde und dadurch die Schubkraft zu sehr betont wurde. Die Kruppenmuskulatur muss sich wieder so ausformen, dass ein runder Kugelpopo entsteht. Sobald die Gänge taktklar und losgelassen abrufbar sind, werden wir die Seitengänge im Schritt dazu nehmen, um die Stute vermehrt zu balancieren. Rückwärtsrichten und Spanischer Schritt sind ebenfalls wichtige Übungen für dieses Pferd. Es geht darum, die Hinterhand zum Tragen zu bringen und den Widerrist wieder zu heben.


Ich habe Ihnen diesen ausführlichen Bericht geschrieben, weil mir dieses Reiter-Pferd-Paar sehr nahe gegangen ist. Die Stute ist wundervoll und talentiert. Ihr junger Körper wurde durch komplett falsche Reiterei regelrecht geschädigt. Was tun die Menschen den Pferden nur an aufgrund von fehlendem Wissen? Dieses Pferd hat nun das große Glück und wurde von einer tollen und feinfühligen Reiterin gekauft. Ich freue mich auf die Arbeit mit den Beiden. Mit richtiger Dressur können Sie Pferde und Menschen wieder fröhlich werden lassen und den Pferderücken wieder gesund machen.


Ganz herzliche Grüße sendet Ihnen

Andrea Lipp


Foto Copyright Hans Kuczka

0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Comentarios


bottom of page