Das Thema Dehnungshaltung oder Vorwärts-Abwärts wird in letzter Zeit sehr kontrovers diskutiert. Wie man am Titel schon sehen kann, ja ich reite Dehnungshaltung. Ich war aber was dieses Thema betrifft, eine Zeitlang auf einem regelrechten Irrweg.

In der H.Dv. 12 steht „Das Pferd soll lernen, die ohne Reiter gewonnene Haltung wieder zu finden und sich auch unter dem Gewicht des Reiters mit langem Halse und hängender Nase zwanglos zu bewegen. Vermag es diese zwanglose Bewegung beizubehalten, dann lässt es sich los. Die Losgelassenheit ist daran erkennbar, dass das Pferd im Trabe taktmäßig, raumgreifend, ohne zu eilen, vorwärts geht und das Bestreben hat, den Hals mit vorwärts-abwärts gestreckter Nase an die aushaltende Hand heranzudehnen, dass es federnd aus dem Rücken schwingt und den Schweif ohne Spannung natürlich trägt. Losgelassenheit des Pferdes ist die erste Vorbedingung für den Erfolg der gesamten Dressur.“

Aus diesem Satz ergibt sich, dass viele Reiter ihr Pferd zuerst Runde um Runde versuchen in die Tiefe zu schicken. Genauso habe ich es auch jahrelang gemacht und auch im Unterricht so weitergegeben. Dann habe ich das Buch „Klassische Reitkunst mit Anja Beran“ gelesen und war hochgradig verwirrt. Dort stand frei wiedergegeben, dass zu viel Vorwärts-Abwärts das Pferd auf die Vorhand bringt und ein junges Pferd oder auch ein aus der Balance gebrachtes Korrekturpferd sich überhaupt nicht korrekt dehnen kann. Die Muskeln sind noch zu verkürzt, um dieser Anforderung gerecht zu werden. In diesem Buch stand, dass sich die Dehnungshaltung aus der Versammlung ergibt. Ich war richtig verwirrt und begann nachzudenken. Es ist absolut logisch, dass ein untrainierter Muskel noch nicht die Dehnfähigkeit hat, um der oben geschriebenen Anforderung aus der H.Dv. 12 gerecht zu werden. Ein Jogger dehnt sich auch erst am Ende seiner Joggingrunde. Ebenso ist es aus Sicht der Balance eine kolossale Herausforderung mit langem Hals bei gleichbleibendem Takt und schwingendem Rücken durch die Bahn zu traben. Oben genanntes Zitat ist daher so zu verstehen, dass das Vorwärts-Abwärts das Ergebnis der Dressurarbeit ist und in diesem Sinne gelesen ist das Zitat selbstverständlich vollkommen  korrekt und immer noch brandaktuell. In der Reitbahn heißt das aber für das junge Pferd oder das Korrekturpferd, dass ich zuerst in Arbeitshaltung reite. Dem Pferd wird mit beiden Zügeln ein gleichmäßig weicher, feiner Kontakt aus einer absolut ruhig stehenden, nach vorne orientierten Hand angeboten. In dieser Arbeitshaltung arbeite ich das Pferd im gleichmäßigen Tempo nach vorne, bis es Kontakt zu meiner Hand sucht und die Oberlinie lang macht. Anlehnung bringt bei diesen Pferden Ruhe und Sicherheit. Den Zügel wegzuschmeißen oder es zu diesem Zeitpunkt schon in die Tiefe schicken zu wollen, würde unseren vierbeinigen Schüler komplett überfordern!

Zu folgendem Zeitpunkt kann ich darüber nachdenken mein Pferd zu fragen, ob es sich dehnen mag:

* es fängt an in der Arbeitshaltung zu schwingen
* die Bewegungen werden weich und fließend
* der lange Rückenmuskel lässt los
* ich habe einen konstanten Kontakt an beiden Trensenzügeln
* mein Pferd läuft in einem gleichmäßigen Takt wie ein Uhrwerk
* mein Pferd zeigt kein mangelndes Vorwärts und kein Davonstürmen

Mein junges Pferd Pluto Troja zeigt jetzt mit 5 Jahren im Schritt und im Trab eine ganz wundervolle Dehnungshaltung. Er zieht richtig schön nach vorne an beide Zügel und bleibt wie ein Metronom im gleichen Rhythmus. Im Galopp würde ich im Moment niemals daran denken, ihn dehnen zu lassen. Das würde ihn stressen, da er noch nicht so weit ist. Diese Dehnungsbereitschaft frage ich nur ein bis zwei Runden ab und dann hole ich ihn wieder in die versammelnde Arbeit zurück. Genauso mache ich es mit meinem 19 Jahre alten Andalusier Pardo. Er kann sich selbstverständlich in allen drei Gangarten korrekt dehnen. Der Wechsel zwischen den verschiedenen Arten der Formgebung ist ein Prüfstein, ob Sie Ihr Pferd korrekt ausgebildet haben. Das Pferd sollte aus der höchsten Versammlung in die Dehnungshaltung geschickt werden können. Ist dies nicht mehr möglich, Ihr Pferd verbleibt eingerastet in einer Silhouette und mag sich  nicht mehr dehnen, ist etwas schief gelaufen. Genauso schief ist etwas gelaufen, wenn Sie Ihrem Pferd den Zügel hingeben und es schießt über Tempo davon. Auch dann sollten Sie ein paar Schritte zurückgehen und an diesem Thema arbeiten.
Der Wechsel zwischen Vorwärts-Aufwärts und Vorwärts-Abwärts muss jederzeit möglich sein, ohne dass sich der Takt Ihres Pferdes verändert. Wichtig ist lediglich, dass Sie das Vorwärts-Abwärts nicht kilometerweise reiten, denn es bringt Ihr Pferd tatsächlich auf die Schultern und Sie wollen es ja auf die Hinterhand setzen.

Wenn Sie Dehnungshaltung reiten, achten Sie bitte auch darauf, dass Ihr Pferd reell nach vorne zieht. Den Kopf irgendwie abwärts zu bringen und irgendwie daher zu laufen, hat nichts mit korrekter Dehnungshaltung zu tun. Viele Pferde lassen sich in der Dehnungshaltung regelrecht hängen, die Nase zieht nicht nach vorne (Einrolltendenz) und die Hinterhand schleppt. Auch in der Dehnungshaltung brauchen Sie einen Zug nach vorne und Kontakt zu beiden Trensenzügeln. Und noch einmal: Gehen Sie nicht in die Bahn mit dem Ziel „Ich reite heute Dehnungshaltung.“ Die Dehnungshaltung wird Ihnen durch Ihre korrekte Arbeit mit dem Pferd geschenkt.

 

Andrea Lipp, Dezember 2017